„Weck mich, wenn du mich brauchst“ waren die letzten Worte des Master Chiefs in Halo 3, kurz bevor er in den Cryoschlaf fiel. Allein mit seiner KI-Begleiterin Cortana ist er in einer abgerissenen Raumschiffshälfte gefangen. Vier lange Jahre treiben die beiden nun, auf baldige Rettung hoffend, durch die unendliche Leere des Alls. Bis auf einmal ein fremdartiges Leuchten die dunklen Gänge erhellt und Beben das Wrack erschüttern. Irgendetwas ist faul auf der Forward Unto Dawn. Das merkt auch die beunruhigte Cortana. Nach langem Hadern entschließt sie sich den Winterschlaf des Chiefs zu beenden: „Aufwachen, Chief!“ Er wird gebraucht, und zwar mehr denn je.
Kaum aus der Cryokammer entstiegen machen wir uns auch schon mit Cortana im Helm auf Erkundungstour durch das Schiff. Schnell glauben wir die Wurzel allen Übels gefunden zu haben: Die Allianz hat das Schiff geentert. Moment, hatte das Alien-Pack in Halo 3 nicht Frieden mit der Menschheit geschlossen? Egal, wir werden angegriffen und wir schlagen in bester Halo-Manier zurück. Die Tastenbelegung geht Halo-Veteranen nach kurzer Zeit wieder in Fleisch und Blut über. Faule Kompromisse sich an den überall einschleichenden Call of Duty-Standart anzugleichen gibt es nicht. Über Kimme und Korn zu zielen fällt also flach. Das großartige Spielgefühl der Vorgänger stellt sich nach den ersten Kämpfen sofort ein. Wir setzen die alten Taktiken gegen die endlich nicht mehr verniedlichten Grunts, fiesen Schakale und gefährlichen Eliten ein und geben ihnen saures, darauf achtend, dass unsere Schildenergie im feindlichen Beschuss nicht den Geist aufgibt. Wie in der guten alten Zeit. Doch es kommt wie es kommen muss. Nach weiteren spannenden Feuergefechten werden wir und unsere Feinde von einem gewaltigen Planeten eingesogen. Es kommt zum Absturz. Etwas wofür unser Held prädestiniert ist. Der erwähnte Planet ist nicht nur in Trailern sondern auch im Legendary-Epilog in Halo 3 zu sehen gewesen. Er stellt sich als Relikt der Blutsväter heraus, jenen verschwundenen Vorläufer der Menschen von denen wir in den bisherigen Teilen lediglich architektonische Hinterlassenschaften zu sehen bekommen haben, wie zum Beispiel die Halo-Ringe, die als interstellare Waffe gegen die parasitäre Flood dienten. Und auch der Requiem genannte Planet begrüßt uns mit vertrauter Blutsväter-Architekur mit ihren geraden geometrischen Formen, doch wurde sie um schwebende Elemente bereichert, was den sichtbaren Vermächtnissen einen antik erhabenen und imposanten Eindruck verleiht. Insbesondere im Zusammenspiel mit den beeindruckenden Panoramen, die uns Requiem bietet klappt uns regelmäßig die Kinnlade runter. Überhaupt sehen die Umgebungen in Halo 4 fantastisch aus. Ob natürliche Oberflächen, wie Felskluften oder Bauten der Blutsväter, die Optik sieht mit plastisch wirkenden hochauflösenden Texturen und toller Lichtstimmung zum Anbeißen aus.
Auf Requiem befreit der Master Chief versehentlich eine uralte Macht, die die Menschheit unmittelbar bedroht. Mehr soll darüber an dieser Stelle aber nicht verraten werden. Auf seinem Weg die Bedrohung abzuwenden stellt sich dem Chief ein neuer Feind in den Weg: Die Pometheaner. Sie wirken mit ihrer Ähnlichkeit zu den Bauten der Blutsväter wie eine pervertierte Abart selbiger. Die Prometheaner kämpfen in verschiedenen Formen: Die hundeartigen Kriecher blasen im Rudel zum Sturmangriff oder zecken sich an Mauern und Decken fest, um sich von erhöhter Position aus auf euch einzuschießen Die Knights sind aggressive Schützen und teleportieren sich bei Beschuss gerne direkt vor eure Nase, um euch im Nahkampf den Rest zu geben. Am lästigsten sind die schwebenden Watcher, die um verwundete Verbündete einen Schild erzeugt, Knights reanimiert oder von euch geschmissene Granaten postwendend zum Absender zurückschicken. Diese tödliche Nuss gilt es zu knacken. Und dafür ist eine neue Kampftaktik von Nöten, die sich von der gewohnten Herangehensweise für die Allianz unterscheidet.
Zumal der neue Widersacher auch neue Waffen einführt, alle mit neuem Design und speziellen Eigenschaften. Die Scharmützel mit dem neuen Feind sind herausfordernd und packend, besonders auf den höheren Schwierigkeitsgraden. Auf Heldenhaft beginnen Halo-Veteranen sofort. Hier werden sie gut gefordert sodass ihre Fähigkeiten zu jeder in Anspruch genommen werden. Auf den niederen Schwierigkeitsgraden können wir mehr oder weniger durchlaufen. Der höchste Schwierigkeitsgrad Legendär lässt uns allerdings regelmäßig in den Controller beißen und Flüche aussprechen von denen wir nicht mal dachten sie zu kennen. Kurzum: Hier gehen Profis ans Werk. Mit aktivierten Schädeln (vor Spielbeginn hinzugeschaltete Contratribute, wie kein Radar oder stärkere Gegner) verwandelt sich das Spiel zum Inferno. Toll hierbei: Mit steigenden Schwierigkeitsgraden werden die Gegner nicht einfach nur stärker oder halten mehr aus. Sie werden intelligenter, gehen unserem Beschuss aktiver aus dem Weg und greifen offensiver an. So muss das sein!
Wir müssen dieser Plage, aber nicht allein entgegentreten. Der Master Chief trifft nämlich auch auf die menschlichen Streitkräfte des UNSC und das bedeutet neben Manpower auch serientypische Fahrzeugschlachten mit Warthog-Jeep und Scorpion-Panzer nebst den entsprechenden Allianz-Äquivalenten Ghost, Banshee und Wraith. Ab und an dürfen wir auch an Bord des neuen Mantis-Kampfläufers Platz nehmen und legen uns mit diesem an Lost Planet erinnernden Exosuit mit Fußtruppen und Feindvehikeln im Dutzend an. Da wir den Aliens jederzeit ihren fahrbaren Untersatz unter dem Hintern wegmopsen dürfen, fühlen sich die Kämpfe auch hier sehr dynamisch an. Die Gefechte werden durch Missionsziele eingerahmt. Zumeist handelt es sich lediglich darum Schalter zu drücken oder Generatoren einzuschalten oder zu zerstören. Dieses öde Missionsschema zieht sich durch das ganze Spiel. Schade, denn die knalligen Gefechte hätten besser darauf hinauslaufende Ziele verdient gehabt. Halo 4 ist aber nicht bloß nacktes Gameplay, es inszeniert auch eine vollwertige Story. Vollwertige Story? Diese skeptische ist berechtigt: Das Halo-Universum mag, durch die zahlreichen Bücher und Comics, zwar von einem reichen und komplexen Canon durchtränkt sein, in den Spielen ist davon jedoch relativ wenig durchgeschimmert. Entwickler 343 Industries hat es mit dem vierten Teil der Originalreihe geschafft, die Erzählweise zu sensibilisieren. So spielt sich die Story auf zwei Ebenen ab, denn unter der Metastory, um die Feinde der Menschheit, findet die ganz intime, persönliche Geschichte zwischen Cortana und dem Master Chief statt. Sie verhalten sich konträr zur ihrer eigentlichen Natur: Er, ein Mensch, zwar ein genetisch hochgezüchteter Supersoldat, aber immer noch ein Mensch; und sie, ein Computerprogramm, eine weiblich dargestellte künstliche Intelligenz. Beide haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Irgendwann im Spiel stellt Cortana die sehr prägnante Frage, wer von ihnen eigentlich der Mensch und wer die Maschine ist. Diese Beziehung bildet das Herzstück von Halo 4 und hebt das erzählerische Niveau der Franchise auf ein neues Level. Gut, die bisherige Story, über den Krieg gegen Allianz und Flood war zwar immer cool, aber philosophische oder zwischenmenschliche Fragen wurden bislang eher im ganz Kleingedruckten abgefrühstückt.
Ein Grund weshalb uns das Spiel so packt sind die greifbaren Figuren. Nicht nur auf der Storyebene. Jede Figur, egal wie wichtig sie sein mag, hat aufwendige Gesichtsanimationen verpasst bekommen. Dazu wurden, wie in L.A. Noir, die Gesichtsregungen und Körperbewegungen aufwändig von Schauspielern eingefangen und ins Spiel übertragen. So können wir allein schon am Gesicht eines Charakters die jeweilige Gefühlslage beurteilen. Besonders Cortana ist hierbei wunderbar gelungen. Es passiert nicht selten, da wollen wir sie einfach nur in den Arm nehmen und vor allem bösen Beschützen. Zu dem positiven Eindruck trägt auch die deutsche Synchronisation bei.
Kenner der Serie erinnern sich mit Grausen an eine Odyssee der denkbar unpassendsten Sprecher. Microsoft hat auch hier das Maximum herausgeholt und jede noch so kleine Sprechrolle von bekannten Profis einsprechen lassen, die mit viel Gefühl und Sinn fürs gesprochene Wort agieren. Der Master Chief hat mit Tobias Kluckert (die deutsche Stimme von Gerard Butler) endlich einen würdigen Sprecher gefunden, der sowohl den stoischen Pragmatismus, als auch die gelegentlich aufblitzenden Gefühle des Helmträgers hervorragend wiedergibt. Das ist auch wichtig, denn der Spartan redet wesentlich mehr als früher. Allein im ersten Level gibt er mehr von sich als in den ersten beiden Serienteilen zusammen. Auch die restlichen Sounds klingen neu: Der ehemalige Audio Director von Metal Gear Solid hat sämtlichen Waffen- und Fahrzeugsounds einer Frischzellenkur unterzogen. So klingt Halo 4 wesentlich druckvoller und authentischer. Zusammen mit dem wunderbar passenden Soundtrack von Neil Davidge (den wir ebenfalls in unserer GamesArt Volume Reihe ausgiebig getestet haben und zu finden HIER) ergibt sich ein unglaublich stimmiger Sci-Fi-Sound, der sich zudem sehr homogen zur großartigen Optik des Spiels verhält.
Halo 4 ist Microsofts bisher teuerstes Spieleprojekt. Der finanzielle Aufwand sieht man dem Spiel auch an. Die Grafik kitzelt alles aus der betagten Xbox 360 heraus, der Sound tut es der Optik Gleich und die Spielbarkeit sucht Ihresgleichen. Nur die öden Missionsziele hätten etwas aufgepeppt sein können. Aber das ist Kritik auf hohem Niveau. Auch die ca. 5-6 Stunden lange Solokampagne ist zwar kein Umfangsmonster, weiß aber mit Abwechslungsreichtum und vielen zusätzlichen Multiplayer-Modi zu punkten. Mein persönliches Highlight ist aber die Story. Die Entwickler gehen mit viel Fingerspitzengefühl an das Gespann Chief/Cortana heran, sodass ihre Geschichte kein Stück aufgesetzt wirkt. Für ein Blockbuster-Projekt keine Selbstverständlichkeit. Unterm Strich also eine uneingeschränkte Kaufempfehlung und mein Xbox 360-Highlight des Jahres 2012!